Das Fahren mit der Eisenbahn ist zu günstig
Kluges von Kantonsrat Hermann Hess (NZZ, 9. Sept. 2013):
Der öffentliche Verkehr in der Schweiz ächzt wegen Finanzierungslücken. Sein Kernproblem ist, dass er zu stark auf Zuwendungen der öffentlichen Hand basiert. Um das zu lösen, müssten die überrissenen preislichen Rabatte reduziert werden. Gemäss Eisenbahnrechnung beträgt der Eigenwirtschaftlichkeitsgrad dieses Verkehrsmittels noch etwas mehr als 41 Prozent; vor 20 Jahren erreichte er 64,5 Prozent. Einem Nettoertrag von 7 Milliarden Franken stehen Transferzahlungen der öffentlichen Hand von 10,2 Milliarden gegenüber. Die Bahn gewährt ihren Kunden faktisch einen Rabatt von 60 Prozent. Sie erbringt jedoch, trotz dieser Subventionierung (28 Millionen pro Tag durch Bund, Kantone und Gemeinden), nur rund 20 Prozent der Verkehrsleistungen – Tendenz stagnierend, weil der Strassenverkehr auch zunimmt.
Ein anderes Bild ergibt sich beim Verkehrsträger Strasse, der 80 Prozent der Transportleistung bewältigt. Die Gesamtkosten des motorisierten Individual- und Güterverkehrs inklusive Steuerbelastung (Kosten von Hauptstrassen und Autobahnen) und der gesamten Fahrzeugkosten betragen schätzungsweise gegen 80 Milliarden. Sie werden voll von den Benützern gedeckt. Dieses Missverhältnis zieht anhaltende Finanzierungsprobleme bei der Bahn nach sich. Es ist hauptsächlich eine Folge der Preispolitik im öffentlichen Verkehr, namentlich von zu günstigen Abonnementspreisen. Wie konnte es so weit kommen? Man wollte die Konsumenten in den 1990er Jahren zugunsten des kollektiven Verkehrs «umpolen», hat das aber nur in geringem Masse erreicht. Billige Preise kurbeln jedoch, bei welchem Angebot auch immer, die Nachfrage an. In diesem Fall heisst das: mehr Züge, mehr Gleise. So wird der Verlust immer grösser. Trotz den günstigen Preisen beschweren sich immer mehr Bahnreisende zu Recht über Mängel bei Komfort, Sitzplätzen, Service, Sauberkeit und personeller Präsenz. Mit der Politik billiger Abonnemente ist bei Benützern und bei Politikern das Bewusstsein für die tatsächlichen hohen Kosten des Bahnfahrens abhandengekommen. Man verwechselt den Preis mit den Kosten.
Fragt man nach den Gründen für den sensationellen 60-Prozent-Rabatt, wird als Erstes das Umweltargument vorgebracht. Nur zum Vergleich: Würde man einem Fahrer eines Elektroautos den gleichen Rabatt auf seine Kilometerkosten gewähren, so müsste man ihm das Auto glatt schenken. Damit wäre wohl niemand einverstanden. Doch eine zu wesentlichen Teilen mit Atomstrom betriebene Bahn weist gegenüber einem modernen sparsamen Dieselauto relativ geringe gesamtökologische Vorteile auf. Auch bei der Auslastung der Plätze steht die Bahn nicht besser da als das Auto, beide Systeme liegen bei rund 35 Prozent und bewegen viele leere Sitze. Abgesehen von diesen Umweltbezügen ist die Bahn aus strukturellen Gründen nicht in der Lage, weitere substanzielle Verkehre von der Strasse zu übernehmen. Unter diesen Umständen wäre ein grosszügiger Umwelt-Rabatt von 15 Prozent immer noch ein sehr starkes Signal, denn für umweltgerechtes Verhalten erhält man in anderen Bereichen – wenn überhaupt – Zuschüsse von maximal 10 Prozent. Das zweite Argument, die Entlastung der Strasse, ist für «ideologische» Bahnfahrer zweischneidig, betont es doch die Wichtigkeit der Strasse. Dennoch ergibt es im Gesamtsystem Sinn und würde weitere 15 Prozent rechtfertigen. Mit anderen Worten: Es gäbe nachvollziehbare Gründe, weshalb man Bahnfahren für die Benützer um 30 Prozent verbilligt – aber nicht um mehr.
So gesehen müsste die Bahn eine rigorose Beschränkung von Begünstigungen sowie einen durchschnittlichen Preisaufschlag von 70 Prozent durchsetzen und dadurch Einnahmen von 12 statt 7 Milliarden generieren. Das ist insofern ein abstrakter Wert, als bei der Bahn enorme Abweichungen zwischen Normal-, Halbtax- und Generalabonnements-Preisen bestehen. Obwohl die Einzelpreise angeblich hoch sind, müssten sie noch weiter erhöht werden. Bei Halbtax oder GA bietet sich die Bahn für Einzelreisende gegenüber dem Auto (Vollkosten) um 50 bis 70 Prozent billiger an, obwohl die Kosten ähnlich hoch sind. Die Bahn sucht und findet dadurch Auslastung zu einem völlig ungenügenden Preis. Es scheint also, dass wir aufhören müssen, das bewundernswerte, teure und komplexe System SBB im Hochlohn- und Hochpreisland Schweiz zu Schleuderpreisen zu vermarkten und damit in einen Mengenboom, in eine dauernde Überforderung von Menschen und Material, mithin in den Ruin zu treiben. Wir müssen wie gute Unternehmer auf unser unschlagbares Produkt vertrauen und darauf, dass Bahnreisende trotz Preiserhöhungen (vor allem bei Abonnementen) der Bahn treu bleiben werden, weil sie rasch feststellen werden, dass für sie das Auto die Bahn nicht sinnvoll ersetzen kann.
Man mag einwenden, das Abschöpfen zusätzlicher 5 Milliarden bei den Bahnbenützern sei asozial. Dem ist entgegenzuhalten, dass man durchaus Ermässigungen für Bedürftige gewähren könnte. Gleichzeitig ist aber zu bedenken, dass die Politik, ohne mit der Wimper zu zucken, den Benützern des Hauptsystems Auto bzw. Strasse volle Kosten auferlegt. Auch jenen, etwa Gewerbetreibenden und Pendlern, die ohne Auto nicht funktionieren können. Weiter mutet die Politik den Konsumenten ohne Scheu etwa Lebensmittelpreise zu, die 50 Prozent über jenen des Auslandes liegen. Sie verhindert Parallelimporte von Medikamenten und verspielt damit eine Milliarde. Und sie vertritt bei Post und Swisscom zu Recht kostendeckende Preise.