Irene Aegerter

Ein Interview mit einer ausserordentlichen Frau. Irene Aegerter ist eine engagierte Physikerin, die schon seit mehreren Jahrzenten auf dem Gebiet Nuklearphysik tätig ist. In ihrer Karriere gibt sie auch heute noch Vollgas. So war sie von 2008 bis 2012 Präsidentin der WiN Schweiz (Women in Nuclear Schweiz). Sie war zudem während 14 Jahren Mitglied der Energie-kommission der SATW (Schweizerische Akademie der Technischen Wissenschaften). Sie ist eine bekennende Atomstrombefürworterin. Zu der heutigen Lage in der Atomstromdebatte äusserte sich die Wissenschaftlerin in einem Interview.

1. Wo sehen sie konkret die Vorteile von Atomstrom?

Atomstrom ist praktisch CO2-frei und ein Kernkraftwerk produziert während über 8000 Stunden im Jahr rund um die Uhr Strom und garantiert uns zusammen mit der Wasserkraft eine fast CO2-freie sichere Stromversorgung.

2. Sehen Sie auch Nachteile?

Es braucht eine hohe Sicherheitskultur beim Betrieb der Kernkraftwerke. Die Menschen müssen sehr gut ausgebildet sein und die Betreiber müssen – auch kostspielige – sicherheitstechnische Nachrüstungen durchführen, wenn sie sich als notwendig erweisen. Wenn dies nicht der Fall ist, dann soll auf Kernkraftwerke verzichtet werden.

3. Sind die AKWs in der Schweiz ihrer Meinung nach genug sicher für ihren derzeitigen Betrieb?

Die Schweizer Kernkraftwerke wurden ständig nachgerüstet. Das KKW Mühleberg hat beispielsweise eine unabhängige gebunkerte Notstromversorgung. Auch wurden nach dem Unfall in Three Mile Island Wasserstoffrekombinatoren eingebaut, damit im Falle eines Wassersstoffgasanstiegs, der Wasserstoff gebunden werden kann und nicht – wie in Fukushima – eine Wasserstoffexplosion stattfinden kann. Sicherheit kostet, aber Unfälle kosten immer viel mehr. Als ich noch in der beratenden Kommission des Bundesrates zur Sicherheit der Atomanlagen (KSA) war, habe ich das bei unseren Aussprachen mit den Kernkraftwerkbetreibern mehr als einmal betont. Sicherheit muss oberstes Gebot sein. Das haben die japanische TEPCO und mit ihr alle Betreiberfirmen von Kernkraftwerken nun hoffentlich für immer gelernt.

4. Nach solchen Katastrophen wie Tschernobyl und Fukushima, kann man da AKWs überhaupt noch verantworten?

Die beiden Unfälle lassen sich überhaupt nicht vergleichen. In Tschernobyl hat man mit einem Kraftwerk, das eigentlich dazu diente Plutonium für Atombomben zu produzieren ein Experiment gemacht. Der Reaktor besass auch keinen Sicherheitsbehälter. Einen solchen RBMK-Reaktor gibt es ausser in der ehemaligen Sowjetunion nirgends auf der Welt. Tschernobyl kann deshalb mit westlichen Kraftwerken nicht verglichen werden. In Fukushima dagegen hat ein Erdbeben der Stärke 9 einen Tsunami mit 12m hohen Wellen ausgelöst und die 6 Notstromdiesel überflutet. Die Reaktoren, welche in Betrieb waren, stellten beim Beginn des Erdbebens automatisch ab. Abgestellte Reaktoren müssen aber weiter gekühlt werden. Dafür gibt es Notkühlsysteme. In Fukushima Daichi, jedoch standen die Notkühlsysteme ungebunkert am Meer, obwohl man um die Gefahr von Tsunamis wusste, denn um das Kraftwerksareal war eine 5m hohe Tsunamimauer gebaut, allerdings war diese viel zu niedrig. Der Tsunami flutete sämtliche Notstromversorgungsanlagen, sodass die Kühlung der Reaktoren nicht mehr gewährleistet war, weshalb einige Brennstäbe schmolzen. Zudem hat der Anstieg des Wasserstoffgases zu den im Fernsehen immer wieder gezeigten Wasserstoffexplosionen geführt. Viele Leute glaubten, das Kernkraftwerk sei explodiert. Beides hätte – wie wir heute genau wissen – vermieden werden können, da das Erdbeben das Druckgefäss nicht beschädigt hatte:
1. Wären die Notstromdiesel nämlich gebunkert gewesen, wären sie nicht ausser Gefecht gesetzt worden und hätten die Kernkraftwerke nach der automatischen Abstellung weiter kühlen können.
2. Hätte die Betreiberfirma von Fukushima Daichi die Offerte der schweizerischen Elektrowatt damals akzeptiert und wie im baugleichen Kernkraftwerk Mühleberg Wasserstoffrekombinatoren installiert, hätten keine Explosionen stattgefunden. Für mich ist es schlicht unverständlich, warum die TEPCO diese Nachrüstungen nicht machte und so die gesamte Kernenergiebranche in ein schlechtes Licht brachte. Hier braucht es eine weltweite Aufsichtsbehörde mit Verfügungsmöglichkeiten.

5. Aber was ist dann mit radioaktiven Abfällen, was für Ideen haben Sie für die Endlagerung des Atommülls?

Es braucht keine neuen Ideen für die Lagerung der radioaktiven Abfälle, aber es braucht nun einen politischen Entscheid den vom Bundesrat verabschiedeten Sachplan Entsorgung umzusetzen. Es geht darum, den Abfall in einer geologischen Schicht, dem Opalinuston, einzulagern. Diese Tonschicht quillt bei Wassereinbruch auf und ist damit selbstdichtend.

6. Wären Sie bereit in ihrer Nachbarschaft ein Endlager zu haben?

Ich wüsste nicht, warum nicht. Im Gegensatz zu chemischen Abfällen zerfallen radioaktive Abfälle. Je stärker radioaktiv sie sind, desto kurzlebiger und je schwächer radioaktiv, desto langlebiger. Das vergisst man immer wieder. Zudem werden sehr wenig Abfälle pro produzierte kWh erzeugt, diese kann man dann verglasen und in mit Bentonit ausgekleideten Fässern lagern und die Umgebungsradioaktivität kann man genau messen, man muss niemandem etwas glauben. Leute, welche in Kerala oder in Guarapari an der Atlantikküste Brasiliens leben oder auch im Gotthardmassiv, sind einer viel höheren Strahlenbelastung ausgesetzt. Man vergisst immer, dass es NIE eine Welt ohne Radioaktivität gab.

7. Aber Radioaktivität ist doch gefährlich!

Radioaktivität in hohen Dosen ist gefährlich ja, und ich begreife auch, dass Radioaktivität Angst macht, da man sie weder sehen, riechen noch schmecken kann, aber man kann sie genau messen und man kann sich davor schützen, durch Abstandhalten oder Abschirmungen. Früher galt Radioaktivität als gesund, man denke z.B. an die Radonkuren in Bad Gastein oder die Aufschrift auf dem Lotsdorfer Mineralwasser: „Höchste radiumhaltige Quelle“. Ich selbst habe 1995 bei Besuch in Tschernobyl mehr Radioaktivität beim Flug von Zürich nach Kiew aufgenommen als im Kernkraftwerk, wo damals noch ein Reaktor in Betrieb war. Seitdem Leute Atomkraftwerke abschalten wollen, wurde Radioaktivität zum Angstmachen benutzt.

8. Atomausstieg, ja oder nein? Wenn ja wie könnte die Schweiz ein Energieloch vermeiden, respektive umgehen?

Die Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger haben bereits vier mal den Ausstieg aus der Atomenergie abgelehnt: 1979, da ging es um den Bau von Kaiseraugst, dann geschah im März 1979 der Unfall in Three Mile Island und so wurde eine neue Initiative lanciert, welche 1984 abgelehnt wurde. 1986 nach dem Unfall in Tschrenobyl wurde wieder eine Initiative gestartet, welche 1990 abgelehnt wurde. Damals wurde aber ein 10jähriges Moratorium für den Bau neuer AKW angenommen. Als es 2000 auslief, wurde eine neue Initiative zur Verlängerung des Moratoriums aufgenommen und ein weiterer Anlauf für den Ausstieg, der 2003 – so hoch wie nie zuvor (2/3) -verworfen wurde. Die Schweiz braucht eine sichere, CO2-freie Stromversorgung, denn der Klimawandel ist real. Es ist unredlich, den Atomausstieg mit Gaskraftwerken bewerkstelligen zu wollen. Zudem wissen wir nicht, ob wir dereinst genügend Gas aus Russland erhalten. Sicher müssen wir sparen. Allerdings werden 2/3 des Stroms in Industrie, Gewerbe und Dienstleistungen verbraucht und dort ist Strom ein Kostenfaktor, sodass viele Sparmassnahmen bereits ergriffen wurden. Nun sind die 30% Haushaltstrom an der Reihe. Da gibt es höchstens 10% Einsparmöglichkeiten. Diese werden aber durch zusätzliche Stromanwendungen weggefressen z.B. Wärmepumpenheizungen etc.